Iris Welker-Sturm



Die Wortstellerin verknüpft Text, Bild und Objektkunst in meist interaktiven Ausstellungen und performativen Lese-Konzerten. Aufgewachsen in Mannheim, Studium der Germanistik, Romanistik, Psychologie und Kunst. Zwei Töchter, 25 Ehe- und noch mehr Lehr(er)jahre als Lern- und Schreibcoach und in der Lehrerfortbildung; seit 1997 zahlreiche Veröffentlichungen und öffentliche Auftritte; Auszeichnungen u.a.: Landschreiber-Preis, Auszeichnung ver:di-Worte gegen rechts, Dr. Dagmar-Morgan-Preis, sowie Stipendien für Kunst und Literatur. Mehrere Jahre im Vorstand und Mitglied der Künstlerinnengemeinschaft GEDOK FrankfurtRheinMain, der Künstlergruppen Einsteins Muttermal und Impuls-art, der Textwerkstatt Darmstadt, der Literaturgruppe Poseidon, der europäischen Autorenvereinigung Die KOGGE und des Verbands der Schriftstellerinnen und Schriftsteller.  

mehr: www.wortstellerin.de

 

Neuere Aktivitäten und Veröffentlichungen (Auswahl):

     *das unerhörte zwischen. gedichte & mokka kaos.Verlag auf der Warft, Hamburg und Münster 2014                  

*Hörbeispiele von Lesungen im pod cast von Helmut Müller (radio radar), http://gegendasvergessenlebensarbeit.podspot.de

                    Stichwort: welker-sturm, 2016 ff

*Dauerausstellung Kreuzwege – Lebenswege an der via regia, Leipzig-Plagwitz, 2017ff

            *stimm haft. textkonzert. In: GEDOKfrankfurtrheinmain (Hrsg.) Dokumentation des Kunstprojekts fwr: frauen=wahl=recht;

(Begleitprogramm zur Ausstellung Damenwahl im Historischen Museum Frankfurt 2018/2019),

  *regelmäßig in: MATHILDE, der Frauenzeitung aus Darmstadt

 

who bin i?

bin i zwie

bin i bi?

sin noch annere

drin in mi?

un wenn i sie

wie krieg ichs hie

wie find i sie

mei ureigenscht i?

mei ganzes lewe

spielt um sie

siehs awer nie.

schließlich find i mi

im innere zwiespalt

zwische i un mi

bin i bi

un absolutely i.

          

in: das unerhörte zwischen. gedichte  & mokka kaos, Verlag Auf der Warft, Hamburg und Münster 2014

*

 

Bahnhof oder Schnellkurs in Riedhessisch

Ist doch ganz nah. Gilt als zumutbar. 40 Kilometer. Luftlinie. Im äußersten hessischen Zipfel. Und es gibt einen Zug. Wann? 5 Uhr 22. Na ja, früh ist das schon, vor allem, wenn die andern hier am Abend ein bisschen länger zusammensitzen vor meiner Tür. Aber ich freu mich. Endlich kann ich was tun, auch mal was ausspucken, nicht immer nur Wissen in mich reinstopfen. Mit Kindern arbeiten. Schließlich ist es das, wofür ich jahrelang gebüffelt hab.
Jetzt wird's ernst. Jetzt wird sich's zeigen. Aber ich werd schon klarkommen. Ich denke, man muss nur mit ihnen reden, ihnen zuhören, sie wirklich ernst nehmen. Neununddreißig sinds. Ganz schön viele. Aber da muss ich mir halt was Peppiges einfallen lassen, um die zu packen. Hab mir da so ein Buchprojekt vorgestellt, als Einstieg, zum Kennenlernen quasi. Da schlag ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Die kommen zum Reden und ich erfahr was über sie. Ja, eine Fünfte. Die sind ja auch neu da, genau wie ich. Ja, eigenverantwortlich nennt man das. Heißt im Grunde, dass ich da ausprobieren kann, was ich will, ohne allzu viel Kontrolle. Ja, gut, auch ohne Anleitung.
Ja, du hast Recht, eigentlich ist das in einer Fünften nicht zulässig. Aber soll ich gleich zu Anfang protestieren? Schließlich bin ich froh, dass ich überhaupt was gekriegt hab in der Nähe. Und ich bin denen doch auch vom Alter her und sprachlich viel näher als ihre Lehrer. Bei euch da oben im hohen Norden hätte ich die vielleicht gar nicht verstanden - und mit den Eltern wärs sicher auch nicht so einfach gewesen. Ihr sprecht doch ne ganz andere Sprache. Ja, ist mir neulich aufgefallen. Ich weiß nicht mehr so genau, was es war. Ja klar, ich halt dich auf dem Laufenden. Ja, ich melde mich. Spätestens nächste Woche. Sowie ich mir einen Überblick verschafft habe.

Ja, tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet hab. Stress. Ja, Praxisschock nennt man das wohl. Jedenfalls war ich darauf nicht vorbereitet. Überhaupt ist das meiste für die Katz, was ich auf der Uni gelernt hab. Ich kann ja noch nicht mal mit denen reden! Und wenn die untereinander babbeln, versteh ich nur Bahnhof. Ja, klar, wenn es quasi offiziell mit mir und für mich bestimmt ist, dann versuchen sie hochdeutsch zu sprechen oder was sie dafür halten. Aber unter sich und spontan - Riedhessisch! Ja, davon hatte ich auch bis vor kurzem noch nie was gehört. Und mein Heimatidiom nützt mir auch herzlich wenig. Dabei ist es quasi direkt vor meiner Haustür. Wie eine Fremdsprache. Sehr witzig! Ja, ich unterrichte auch Fremdsprachen. Aber nur, wenn ich sie selber einigermaßen spreche und verstehe. Und hier geht's um Deutsch, was ich den lieben Kleinen beibringen soll. Und der einzige, mit dem ich mich verständigen kann, ist ein kleiner, altkluger Außenseiter, der da irgendwo aus der Gegend um Hannover kommt. Aber mit dem wollen die anderen nichts zu tun haben, und ich hab noch nicht mal rausgefunden, was sie konkret gegen ihn haben. Nee, ich hab noch gar nicht richtig angefangen. Wie denn auch, bei neununddreißig Rackern, die gleich spitz gekriegt haben, dass ich kaum etwas von dem mitkriege, was sie sagen - die versuchen mir doch auf dem Kopf rumzutanzen. Verdammt! Wie komm ich zu einem Schnellkurs in Riedhessisch? Du ich leg mal auf, muss mich noch vorbereiten. Ja, danke.

Danke der Nachfrage. Ja, ich lerne; mache erste Fortschritte. Haha, ich hatte doch glatt gedacht, ich würde unterrichten. Im Mentor-Unterricht darf ich bis jetzt nur zuschauen, als hätt ich noch nie was von Didaktik und Methodik gehört und im eigenverantwortlichen Bereich lässt man mich vor mich hin wurschteln. Zeit hat hier keiner.
Ja doch, da mache ich kleine Fortschritte. Wortschatz und Grammatik. Schließlich hieß mein Spezialgebiet Kommunikationswissenschaft. Wenn ich mir auch nicht hätte träumen lassen, dass meine Kenntnisse so zum Einsatz kämen. Vielleicht sollte ich am Lehrstuhl mal einen Kurs in Anthropologie anregen. Der wär echt hilfreich.
Du kannst dir das nicht vorstellen? Du meinst ich flachse hier nur rum? Na gut, dann will ich dich mal aufklären, damit du nicht so dumm stirbst, wie ich die ganze Zeit gelebt habe.

Wenn hier jemand sagt: "wo mache man hie" brauchst du keine Angst zu haben, dass er jetzt gleich die Hose runterlässt, es geht ihm lediglich um nahe Zukunftspläne. Wenn er dagegen „uff de Abee" zu gehen verlangt, sollte man ihn nicht hindern, den Unterrichtsraum zu verlassen, weil er sich dann nicht etwa mit dem Alphabet beschäftigen will sondern eine Toilette sucht.
Wenn er seinen Zustand als „Schiss hawwe" bezeichnet, kannst du deine Kohletabletten ruhig in der Handtasche lassen, denn es ist ihm aus eher psychischen Gründen nicht wohl, die nur in seltenen Fällen mit einer Verunreinigung des Klassenraums einhergehen. Übrigens scheinen Toilettendeckel mit das Größte zu sein, was ein Riedhesse sich vorstellen kann, denn „wie en Abee-deggel" ist ein Synonym für „riesig"; kann man hier sogar für Schnitzel verwenden!
Dagegen ist ein „Aaschhernsche" nicht etwa ein unflätiger Ausdruck, den du aus dem Unterricht verbannen solltest, sondern ein possierlich Tierchen, das ab und zu zwischen den Zweigen vor dem Klassenzimmerfenster herumhüpft.
Sprechen sie von „Kanalljevool", wollen sie auch keineswegs ausdrücken, sie hätten genug von deinem Unterricht, nein, sie wollen dir lediglich von ihrem geflügelten Haustier berichten.
Wenn etwas geht „wies Loddche", kannst du zufrieden sein, wenn man das auch gegenüber so „Roigerudschde" wie mir nur ungern zugeben wird. Wenn aber welche „Kallsches mache", solltest du aufmerksam beobachten, du brauchst zwar auch bei den Älteren keine Angst vor Familienzuwachs zu haben, musst aber trotzdem auf Ärger gefasst sein.

Wo ich diese Weisheiten her habe? Na, ganz so schmerzhaft waren diese anthropologischen Studien nicht, auch der Zeitaufwand hielt sich in Grenzen. Ja, ich will meine Erkenntnisse da auch noch weiterentwickeln, mein wissenschaftliches Interesse ist geweckt. Wo? Volkshochschulkurse? Nee. - Ich gehe jeden Mittag an die Pommes-Bude, am Bahnhof. Weiß bloß noch nicht, was ich mit all den Pfunden mache, die ich mir dort angefuttert habe.

In: WIR. Das Magazin im Gerauer Land, 188/2011, S. 32f.